Greisenkind und Bruderkopie


Ein kleiner Junge und seine Schwester spielten unbeaufsichtigt erwachsen.

≈ Sie stürmten in das kleine Karlsruher Oma-Café wie zuletzt der Orkan „Felix“ über Norddeutschland. Laut, drängelnd und ohne Rücksicht auf im Weg sitzende Gäste. Drei Kinder halt mit ihren Eltern im Schlepptau. Das Kommando jedoch hatte der Nachwuchs.

Vergreister Junge

Geschwind marschierte das ältere, blondgelockte Mädchen auf einen VierertTisch zu, ihr Bruder fix hinterher. Die Mutter setzte sich als erste Erwachsene dazu, ergriff die Speisekarte und las still vor sich her. Dann legte sie die Druckschrift beiseite, stapfte mit einem der Kinder zur Kuchentheke und kam freudestrahlend zurück an den Tisch, wo mittlerweile auch der Vater mit drittem Zögling saß. „Also, es gibt Apfelstrudel, Schokotorte…“, erzählte die Mutter der lauschenden Familie. Schnell tauschte man sich untereinander aus, wer welche Sorte bestellt, und schon ward es ruhig. Frau Mama entschuldigte sich für kleine Königstiger. Derweil begang der Vater, die Windel seines jüngsten Spross‘ zu wechseln. Nichts Ungewöhnliches, deshalb blickte ich umso öfter zu den anderen zwei Kindern: zum blonden Mädchen und zu dessen Bruder. Der eben doch etwas ungewöhnlich war. Ja, er hatte herausstehende Augäpfel und überhaupt die Physionomie von Menschen, die äußerlich schnell vergreisen. Der Name dieser Krankheit ist mir entfallen, man hat solche Leute schon öfters gesehen, meist in den Medien. Trotzdem habe ich geguckt. Regelrecht geglotzt. Aus purer Neugier. Wollte erahnen, wie alt Jan, so nannte ihn seine Mutter, wohl sein mochte.

Sortierte Körpersprache

Seiner Kleidung nach zu urteilen war er gerade dem Kindergarten entkommen, vielleicht in der 1. Klasse. Auf dem knallblauen Pullover ein aktueller Zeichentrick-Star, farblich konträr dazu eine giftgrüne Hose mit leuchtenden Winterstiefeln. Bei seiner Schwestern schien die Kleidung ähnlich gestaltet. Und vom vorigen Staffellauf quer durchs Café weiß ich, dass sie minimal kleiner ist als ihr Bruder. Nur nicht weniger laut. Beide saßen jetzt unbeachtet ihrer Eltern am Tisch. Den Rücken steif gestreckt, Popo ganz nah an der Sitzkante und der Stuhl soweit nach vorne gerückt, dass ihr Bauch die Tischplatte berührt. Und beide Kinder gerade so rüberschauen konnten. Jan hatte seine Speisekarte aufgeklappt und vor sich hingelegt. Das Mädchen nahm sich auch eine und tat es ihm nach. Fast zeitgleich legten sie ihre Hände aufs Papier und ihre Köpfe hinunter zum Geschriebenen. Mit ihren Zeigefingern fuhren beide Geschwister jeweils langsam und bedächtig  über die gedruckten Letter, scheinbar in Leserichtung, dann doch diagonal zum Ende der Seite und zurück. Nach einigen Sekunden vertiefter Stille das erste Wort.

Erwachsener Durst

„Und, … was nimmst du?“, fragte Jan seine Schwester. Die kurze Silbe des Auftaktwortes sprach er dabei mit betont tiefer Stimme, die weiteren Satzteile dann wieder in kindlicher Sopranhöhe. Das Mädchen reiste mit ihrem Finger immer noch ziellos über die Buchstaben. Ohne dem Bruder zu antworten. „Also ich brauche jetzt ein Bier“, verkündete Jan resolut in die Mitte des Raums hinein. Keine Kellnerin in Rufnähe, auf seinem Gesicht absolutes Selbstvertrauen. Gesagt, getan. Gut, nur Letzteres dann doch nicht, allein schon der gesetzlichen Vorschriften wegen. Doch der Junge ging auf in seiner Rolle, streckte den Rücken noch gerader als eh schon. Und drehte sich jetzt fragenden Blickes zur Schwester. Aufmerksam und doch etwas von oben herab, schließlich hatte er seine Entscheidung längst getroffen. Sie blickte kurz auf vom Text. Griff nach der Karte, klappte sie energisch zusammen und sprach theatralisch: „Hach, nur ein Apfelsaft, habe heute etwas Migräne.“ Es fehlte nur, dass sie sich mit lascher Hand an die Stirn fasst, um ihr Leiden wegzustreichen. Denkste.

Leger ins Leben

Wie zwei alte Hasen ließen sich die beiden Kinder fast zeitgleich in ihre Stühle fallen. Er nur eine halbe Minute vor seiner Schwester. Beide mehr liegend als sitzend, weil das jeweilige Möbelstück eher für größere Personen gedacht, fläzten die Geschwister also vor sich hin. Die kindlich kurzen Arme hatten sie jeweils entspannt auf den vier Stuhllehnen positioniert. Jan drehte seinen Kopf zu ihr und stöhnte dann erleichtert: „Das Leben kann so schön sein.“ Kein weiteres Wort, Stille. Was geblieben ist, war ein strahlendes Lächeln auf seinen Lippen, während sie lautstark antwortet: „Oh ja!“.

Keines der Kinder habe ich gefragt, wie alt er oder sie ist. Also weiß ich nicht, wer im Laufe ihrer Jugend dem anderen das größere Vorbild gewesen ist oder in den Folgejahren sein wird. Für diesen einen Café-Moment und keine Sekunde früher oder später stand eins jedoch ultimativ fest: Sie eiferte ihm nach. In der Gestik, Mimik und im Tonfall. Während Jan an diesem Samstagnachmittag einfach nur ‚erwachsen‘ spielte. ≈≈

© Linda Könnecke

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Ein Gedanke zu „Greisenkind und Bruderkopie

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