Ein älterer Herr kämpft mit dem Klemmbügel und liest weiter.
≈ Als ich heute morgen zum Büro fuhr, lag der Sperrmüll noch immer entlang der Straße. Das städtische Entsorgungsfahrzeug ließ weiter auf sich warten, der Fußgängerweg versperrt durch dreckige Matratzen, kaputte Bürostühle und separate Schranktüren. Mittendrin wühlte sich ein älterer Mann durch die Lumpen. Viel war nicht mehr übrig an verwertbaren Haushaltswaren anderer Leute. Doch er suchte mit gebücktem Rücken zielstrebig weiter. Ich parkte ganz in der Nähe, Büro kann warten und überhaupt ist das aktuelle Sperrmülltreiben ein Ärgernis und spannendes Erlebnis zugleich.
Massig Papier
Nach einigen Wartesekunden tauchte er irgendwo zwischen aufgestellten Teppichrollen, quer liegenden Matratzen und dreibeinigen Küchenstühlen wieder auf. In der Hand ein dicker grüner Aktenordner. Die Variante, bei der nicht nur die Kontoauszüge eines Monats, sondern mehrere Geschäftsjahre reinpassen. Was im Fund-Ordner des älteren Herren drin war, konnte ich von meinem Parkplatz nicht erkennen. Massig Papier schien jedenfalls zwischen den Deckeln abgeheftet. Und Opa Sperrmüll mühte sich inzwischen mit der Exzentermechanik ab, die Aktenordnern nun mal zugrunde liegt. Vermutlich wollte er das Papier wegschmeißen und nur den grünen Ordner mitnehmen. Doch der Klemmbügel wollte sich einfach nicht öffnen.
Augennahe Lektüre
Muss kräftezehrend sein so eine Ordnerbewältigung. Jedenfalls setzte sich der Mann mit seinem widerspenstigen Fundstück auf einen der Sperrmüllstühle. Und hält inne. Dann schlägt er den Sammelordner intuitiv an erster Seite auf. Liest ein paar Zeilen. Das Papier recht nah an seinen Augen, gewöhnlich bei älteren Menschen. Er blättert weiter nach hinten, liest wieder. Der problematische Klemmbügel scheint vergessen. Ebenso die anderen Sperrmüll-Wühler um ihn herum, die hier und da eine Spanplatte heben und wieder zurücklegen. Er liest.
Zufriedener Feierabend
Und ich musste dann langsam doch ins Büro. Mit der Hoffnung, dass nach Feierabend aller Müll wieder von Fußgängerwegen und Straßen geräumt ist. Und mit der Gewissheit, dass der halbjährliche Sperrmüll die Anwohner in ein paar Monaten erneut nerven wird. Auch mich. Für heute aber hat der weggeworfene Kram einen Menschen spontan zum Lesen gebracht. ≈≈
© Linda Könnecke
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