Warum ich unbedingt handeln wollte, keinen Sinn fand und ErSieEs würdevoll entsorgte.
≈ Am frühen Vormittag strahlte die Sonne ins Arbeitszimmer. Die Fenster waren angekippt, und während ich am Schreibtisch saß, wehte eine frische Brise entlang meines nackten Hinterkopfs. Gerade tippte ich eine Briefantwort in meinen Rechner, als ich im Augenwinkel eine flatternde Bewegung wahrnahm. Instinktiv verspürte ich den Drang, zu handeln. Irgendwie, mit irgendwas. Nur was?
Nicht hinterfragen
Während das Insekt weiter umherschwirrte und keinen Landeplatz fand, stieg in mir eine Erinnerung auf. Es war ein heißer Sommertag vor rund 30 Jahren. Ich saß im Mahlsdorfer Garten meiner Großeltern, frisch trockengerubbelt von meinen Ausflug im Schwimmbecken und wärmte meine Füße an den aufgeheizten Terassenfliesen. Neben mir saß mein Opa und begutachtete den Wildwuchs seiner Pflanzen. Mit seinen knochigen Finger wies er auf eine neue Ameisenstraße hin, die entlang des mit Kuchen gedeckten Gartentischs führte. Und ich? Stand von meinem Liegestuhl auf und trampelte mit nackter Sohle energisch auf einigen der Insekten herum. Es folgte Stille.
„Warum machst du das?“ fragte mein Großvater beherrscht und zugleich mit Ausdruck.
Ich schaute ihn an, blickte auf die zerdrückten Ameisen, schaute ihn wieder an. Wusste keine Antwort. Gab auch ihm auch keine. Was ich jedoch selbst heute noch erinne, ist der spontane Gedanke, den ich damals hatte, aber nicht aussprach. „Das machen wir immer, meine Freunde und ich. Einfach so.“ Kein Hinterfragen. Einfach so. Und nicht nur einmal. Im späteren Verlauf meines Lebens habe ich so einiges Kleintier vernichtet. Fruchtfliegen mit alten Zeitschriften erschlagen, Spinnen mit Staubsaugern entsorgt und alles meist ohne Scham oder Mitleid. War einfach so. Doch jetzt nicht mehr.
Liebevoll auswärts
Ja. Fliegen oder Mücken haben auch zwanzig Jahre später noch immer keinen erkennbaren Zweck für mich. Jedenfalls, wenn sie meinen heimischen Abfalleimer oder mein Schlafzimmer bevölkern und obendrein meine Konzentration beeinträchtigen. Warum also umdenken? Vor einigen Jahren lernte ich eine Frau kennen, die als selbst gewählte Vegetarierin lebt. Fleischlose Speisen als Maxime und scheinbar ethisch-korrekter Hochgenuss. Allerdings lässt sie am kalten Büffet rigoros eine Käseschnitte liegen, sobald diese den Teller mit Salamibroten berührt hatte. Ich bin liiert mit einem Mann, der mich beim obligatorischen Griechenlandurlaub nächtelang wachhält, weil er wieder einen Gecko an der Zimmerdecke entdeckt hat oder eine Motte um die Glühbirne schwebt. Im Gegensatz zu Kleinlinda vernichtet er sie nicht wahllos, sondern treibt sie mit leichten, nicht zu heftigen Handtuchschwüngen aus dem Fenster oder trägt sie, im Falle eines Weberknechts, liebevoll und per Schaufel vor die Wohnungstür. Zudem schaue ich in letzter Zeit freiwillig und regelmäßig Reportagen über Tierschützer, welche die Missstände in der Fleischindustrie aufdecken. Bin deshalb kein Vegetarier geworden. Und überhaupt war mein damaliges Ameisentreten in keiner Fleischeslust begründet.
Mein gesellschaftliches Umfeld hat mich mit den Jahren resozialisiert. Ungewollt zum Nachdenken, Andershandeln angeregt. Im Falle des undefinierbaren Insekts, das neulich meinen Schreibtisch umflog, stand ich kurz davor, selbiges zu erschlagen. Mit meinem Schreibblock oder meiner bloßen Hand, egal wie. Die spontane Erinnerung an meinen Großvater und seine eindringliche Frage hatten mich gestoppt.
Dankbar sein
Fliege, oder was auch immer ErSieEs war, surrte einige Minuten weiter umher. Ich vertiefte mich in meine Texterei am Rechner, beendete mein Tageswerk und verließ das Haus, um einkaufen zu gehen. Als ich vom Lebensmittelmarkt zurückkam, stand das Fenster im Arbeitszimmer immer noch offen. Auf dem vom Sommerwind staubigen Parkettboden lag besagtes Insekt. Tot. Es hatte die Augusthitze nicht überlebt. Aus der Küche holte ich geschwind Kehrschaufel mit Besen, beförderte das Tier hinauf und brachte es auf seine letzte Reise gen Hinterhof. Für einen kurzen Moment gedachte ich meines verstorbenen Opas und dankte.≈≈
© Linda Könnecke
Hallo linda,
Nur eine anmerkung,
Jedes lebewesen stirbt auf kurz oder lang. Hat aber nicht jeder ein recht auf leben oder habe ich das falsch verstanden.
Deine mama
.
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Habe doch noch einmal nachgedacht. Das tier ist auf normalen
wege gestorben. Gut so.
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Hallo Mama, manch ein Erlebnis im Alltag bedarf eben des einen Gedankens mehr.
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