Wie ich ins Leben stürmte, mich ekelte und Herzenswärme empfand.
≈ Erst kürzlich betatschte mich ein betrunkener Mann an der Supermarktkasse. Streichelte meinen Handrücken. „Geht es dir gut?“ Ja, lass mich in Ruhe. Die Schlange rückte vorwärts, da griff er wieder an meinem Arm. „Alles klar?“ Keine Antwort meinerseits, die Kassiererin wartete eh auf mein Geld. Und ich der Furcht entkommen. Genau diese Episode hatte ich im Hinterkopf, als ich gestern von einem Hinterhof in Richtung Fußgängerweg stürmte. Und eine fremde Hand direkt in meiner fühlte. Für den Bruchteil einer Sekunde, nicht länger. Doch kräftig.
Erschreckender Ekel
In mir hoch stieg der pure Ekel. Eigentlich indirekt, weil erinnernd an den Alkikontakt vor wenigen Tagen. Ekel, Angst, Furcht – alles in einem. Noch während die erneut fremde Hand aktuell in meiner lag. Ich drehe mich um. Wer ist es diesmal? Die griffkräftige Frau hinter, fast neben mir zeigte nur gerade aus. Einen Schreckmoment später erkenne ich den Fahrradfahrer, der mit Tempo 50 weg düst. Der mich jedoch, wenige Sekunden zuvor, fast zu Boden geschmissen hätte. Das Ekelgefühl in meiner Hand verwandelte sich just in Herzenswärme als wäre ich drei Jahre alt und meine Mama..
„Danke!“. Laut und deutlich. Nicht zum Drahtesel. Zu der fremden Frau, die fast schon wieder weg war, ihren Einkaufsbummel fortzusetzen. Aus ihrem gebrochenen Deutsch verstand ich, dass die handgreifliche Vorsicht für sie selbstverständlich war. Und das Leben geht weiter. Für sie, für mich. Für den Fahrradfahrer.
Musikalisches Taktgefühl
Rücksichtnahme auf Andere lautet das oberste Gebot im täglichen Straßenverkehr. Achtsam sein in möglichst jeder Minute, wohin man läuft, welches Tempo man fährt und so eilig der Moment. Ein musikalisches Taktgefühl scheint die oberste Prämisse im menschlichen Miteinander. Klingt oft ziemlich daneben, erfordert viele Proben und ist zugleich jedes erneute Mal eine Uraufführung der unvollendeten 9. Sinfonie Beethovens.
Menschen existieren parallel in dieser Welt und interagieren oft unbewusst miteinander. Personen kommen sich näher oder wahren Abstand. Beides aus unterschiedlichen Gründen. Auf unterschiedliche Weise. Vorschnell im körperlichen Kontakt durch einen Fremden, der offenbar nichts Gutes verheißt. Und womöglich doch nur lieb sein will. Der eben nur nicht weiß, welchen Raum er zu wahren hat. Auch gar nicht lange drüber philosophiert, sondern direkt in Aktion tritt. Der betrunkene Mann an der Supermarktkasse genauso wie die ausländische Frau auf dem Fußgängerweg. Wir alle beschreiben tagtäglich den schmalen Grat zwischen höflicher Distanz und erforderlicher Nähe. Ein wackeliges Ballett, das unbewusst den Takt unseres Lebens dirigiert.≈≈
© Linda Könnecke