Moralpredigt vs. Lebenlassen


Warum ich lieber still bleibe und anderswo zurede.

≈ Eigentlich prall gefüllt der Kühlschrank am Ende des Feiertags. Dennoch zog es mich gestern früh in den nahegelegenen Supermarkt. So wie deutschlandweit an jedem ersten arbeitsreichen Morgen nach einem Feiertag. Als hätte man gerade einen neuen 30-jährigen Krieg hinter sich. Überall scheint an einem solchen Tag die Not ausgebrochen. Oder die Hungerperiode soeben beendet. Bei mir herrschte gestern kein Mangel an Lebensmitteln vor. Vielmehr hatte ich anderthalb lange Urlaubstage im fernen Heidelberg verbracht und wollte endlich wieder „unter uns“ sein. In meinem Viertel.

Resolute Wortwahl

An diesem Freitagmorgen war das übliche Szenario zwischen der sonst schon engen Gasse entlang Frischetheke und Chipsregal verstärkt eng. Die Ursache hierfür lag im vermehrten Personenaufkommen nach einem Feiertag in einer sonst schon kleinen Ladenfiliale, respektive nah dran am ebenfalls einkaufenden Mitmenschen. Vermutlich kommt daher die Bezeichnung „Nahkauf“. Was soll’s. Vorwärts gedrängt in Richtung Kasse. Nur zwei Mitmenschen vor mir, dann darf ich mein Portemonnaie zücken. Dachte ich. Denn prompt quetschte sich ein junger Mann von der Schlange nebenan direkt vor meine Nase. Er schien vielleicht zehn, fünfzehn Jahre jünger als sich, doch sein Gesicht zeugte von einer hart verlebten Jugend. Entsprechend resolut war seine Körpersprache und Wortwahl. „Ey sorry, aber“ vermeldete er lautstark und deutete dabei auf die Bierflasche in seiner linken Hand.

Mein instinktives Helfersyndrom verlangte danach, ihn zu beschützen. Worte über Worte schwirrten mir durch den Kopf: „Alkohol am Morgen bringt Kummer und Sorgen“ „Warum versaust du hübscher Junge dein Leben?“ „Bier löst deine Probleme nur vorübergehend.“ Doch ich entschied mich anders. Und sagte nur: „Bitte.“

Legales Morgenbier

Die Kasse eines Supermarkts ist kein Ort für wertvolle Moralpredigten. Schon gar nicht während eines stark frequentierten Einkaufsbummels direkt nach einem Feiertag. Zumal der junge Mann in dieser Minute lange genug darauf gewartet hatte, endlich sein Morgenbier legal erwerben zu können. Da zerreißen eher noch seine Nerven an der suchtbedingten Ungeduld, als dass er sich dazu aufrafft, meine gut gemeinten Vorschläge zu folgen.

Wir sehen uns regelmäßig montags beim „Sozialtreff 88“ in der Karlsruher Innenstadt. Ich als Helfer, er als Wohnungsloser. Oft genug sprechen wir dort über seine Problemgeschichte – mit dem Alkohol. Gerade auch deshalb entschied ich gestern an der Supermarktkasse, ihn für diesen Moment einfach mal so leben zu lassen wie er lebt. Für diese erzählte Alltagsepisode und jede andere ist es sein persönliches Recht dazu. ≈≈

© Linda Könnecke

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