Warum ich aus einem ganz anderen Grund Jemanden besuchte.
≈ Ohne große Erwartungen reiste ich vor wenigen Tagen nach Berlin, um meine 93-jährige Großmutter zu besuchen. Als ich in meine Wahlheimat zurückkehrte und Bekannten von meinem Besuch erzählte, folgte in neun von zehn Gesprächen alsbald der ultimative Satz: „Gut gemacht, wer weiß, wie lange sie noch lebt.“
Regung ergreifen
Mal abgesehen davon, dass Madame senior ein starkes Herz in sich trägt, das partout nicht aufgeben will. Ihr Alter war kein Grund, die Reise anzutreten. Ein solches Argument wäre ebenso schwach gewesen, wäre ich fünf und sie 40 Jahre alt gewesen. Drastisch ausgedrückt: Der Tod kommt meist unverhofft und – gefühlt – viel zu früh. In dem Sinne erscheint jeder geplante Besuch zu spät. Ich folgte einfach nur einem aktuellen Gefühl. Es war die Monate vorher nicht präsent und wer weiß, wann wieder. Doch irgendwann im Februar packte mich der Gedanke: „Ich will Oma sehen“. Ein, zwei Tage waberte er in mir; manifestierte sich das Bedürfnis tief drin und resultierte in eben jener Reise nach Berlin.
Ich ergriff den Moment einer Gefühlsregung und ließ selbige zu. Das entschied über jede weitere Aktion. Kein langes Argumentieren dagegen (keine Zeit) oder dafür (wer weiß wie lange. Einfach das Bedürfnis, meine Oma sehen zu wollen, wahrgenommen, erlaubt und danach gehandelt. Den Moment erleben. Das erspart jegliches „hätte, wäre wenn“ vor und nach dem Ereignis. Dafür garantiert es des Aktionisten ein nachhaltiges Gefühl. Im Falle des Oma-Besuchs pure Lebensfreude beiderseits. ≈≈
© Linda Könnecke